Calder. Sculpting Time
05.05–06.10.2024
„…Warum dann nicht auch plastische Formen in Bewegung? Nicht einfach eine schlichte verschiebende oder rotierende Bewegung, sondern mehrere Bewegungen, die in Art, Geschwindigkeit und Amplitude verschieden und so komponiert sind, dass sie eine Resultante ganz machen. So wie man Farben komponieren kann, oder Formen, kann man auch Bewegungen komponieren.“
Alexander Calder, 1933
Kuratiert von
Carmen Giménez
Ana Mingot Comenge
Calder. Sculpting Time
Alexander Calder war eine herausragende Persönlichkeit der Kunst des 20. Jahrhunderts und wird „für immer als der Mann in Erinnerung bleiben, der die Skulptur in Bewegung setzte.“¹ Mit der Einführung der Bewegung in eine statische Kunstform deutete sein Werk den Lauf der Zeit an und ging über das Visuelle hinaus in den Bereich des Zeitlichen.
Calder wurde 1898 in Lawnton, Pennsylvania, in eine Künstlerfamilie hineingeboren. Seine Mutter, Nanette Lederer Calder, war Malerin, sein Vater, Alexander Stirling Calder, wie auch sein Grossvater, Alexander Milne Calder, waren beide bekannte Bildhauer. Calder zieht mit fünfundzwanzig nach New York, wo er an der Art Students League studiert und bei der „National Police Gazette“ arbeitet, für die er Sportveranstaltungen illustriert und Zirkusszenen des Ringling Bros. and Barnum & Bailey Circus skizziert. 1926 übersiedelt er nach Paris; hier schafft er seinen Cirque Calder (1926–1931), ein komplexes, einzigartiges, performatives Kunstwerk – eine Reihe mechanischer, vom Künstler animierter Figuren im Miniaturformat –, mit der er die Aufmerksamkeit der Pariser Avantgarde erregt. Dieser Miniaturzirkus, den Calder 1926 zum ersten Mal vorführt, verändert den Verlauf seiner künstlerischen Laufbahn: Er macht ihn mit Avantgarde-Künstlern bekannt, verschafft ihm eine Einnahmequelle, macht das Publikum auf seine masselosen Drahtporträts aufmerksam und bietet ihm die Möglichkeit, mit kinetischen Objekten zu experimentieren, um Aktion und Antizipation in die Kunst hineinzubringen.
Calder. Sculpting Time konzentriert sich auf die Werke, die in den 1930er und 1940er Jahren entstanden sind. Diese Zeitspanne umfasst die kreativste Schaffensperiode des Künstlers, in der er eine von beispielloser Innovation geprägte formale und plastische Sprache entwickelt. Ab 1930 entledigt sich Calder anekdotischer Details: Der Schwerpunkt seines Schaffens verlagert sich von figurativen Drahtporträts und Drahtskulpturen zu ungegenständlichen Werken aus Blech, Holz und Draht, die er häufig mit Farbe akzentuiert.
„Es ist ernst, ohne so zu wirken“² schreibt Fernand Léger anlässlich einer Calders Ausstellung in der Galerie Percier in Paris in den frühen 1930er Jahren. Zu dieser Zeit schafft er eine Reihe abstrakter Skulpturen, die er als densités, sphériques, arcs und mouvements arrêtés bezeichnet. Zu diesen Werken gehört die berühmte Skulptur Croisière aus dem Jahre 1931, eine der ersten, die seine Hinwendung zur Abstraktion dokumentiert. Sie, eine Komposition aus zwei sich überschneidenden Kreisen aus Draht, einem gebogenen dickeren Stab und zwei kleinen, in Schwarz und Weiss gemalten Kugeln, lässt ein komplexes, dynamisches Schema erkennen. In einem Text, den Calder Jahre später, 1951, verfasst – als er an dem Symposium „What Abstract Art Means to Me“ im Museum of Modern Art in New York teilnimmt, das im Zusammenhang mit der Ausstellung Abstract Painting and Sculpture in America stattfindet –, erklärt er auf prägnante Weise seinen konzeptuellen Rahmen:
Mein Zugang zum Feld der abstrakten Kunst kam als Resultat eines Besuchs im Atelier von Piet Mondrian in Paris im Jahr 1930 zustande.
Vor allem einige farbige Rechtecke, die er nach seiner Art in einem Muster an die Wand geheftet hatte, beeindruckten mich sehr.
Ich sagte ihm, dass es mir gefallen würde, sie schwingen zu lassen, aber er war dagegen. Ich ging nach Hause und versuchte, abstrakt zu malen, doch nach zwei Wochen kehrte ich zu plastischen Materialien zurück.
Ich denke, das Gefühl für Form in meiner Arbeit kam damals und stammt seither praktisch immer vom System des Universums – oder eines Teils davon, denn das ist ein recht grosses Modell, das ich als Vorlage nehme.
Ich meine damit die Vorstellung von losgelösten, im Weltraum schwebenden Körpern, die verschieden gross und dicht sind, vielleicht auch verschiedene Farben und Temperaturen aufweisen, umgeben und durchzogen von gasförmigen Streifen, einige ruhend, während andere sich auf eigentümlichen Bahnen bewegen – das erscheint mir als ideale Quelle der Form.³
Ebenfalls zu Beginn der 1930er Jahre führt Calder mit seinen „Mobiles“ – ein Begriff, den Marcel Duchamp bei einem Atelierbesuch im Herbst 1931 prägt – Bewegung in die ungegenständliche Kunst ein. Er reduziert anekdotische figurative Bezüge auf ein Minimum und weitet die Verwendung von geformtem Metall maximal aus. So bringt er seine fragilen Artefakte zum Fliegen und ermöglicht einen noch nie dagewesenen Dialog mit der Luft. Mitte 1933 kehrt Calder in die Vereinigten Staaten zurück, und im September erwirbt er in Roxbury, Connecticut, ein altes Bauernhaus mit 18 Hektar Land, in dem er später ein grosses Atelier einrichtet.
Eines der aussergewöhnlichsten und bedeutendsten Mobiles ist Eucalyptus (1940), ein imposantes Mobile mit einem grossen, surrealen Element, das in einer spürbaren Spannung zum Boden aufgehängt ist. Eucalyptus wird 1940 in Calders Ausstellung in der Pierre Matisse Gallery in New York zum ersten Mal gezeigt und ist zu Lebzeiten des Künstlers in fast allen seinen grossen Ausstellungen zu sehen. Die zahllosen Variationen und aleatorischen Kombinationen, die Calders Mobile bietet, rufen die persönlichen Lebensumstände des Betrachters auf und verleihen dem gegenwärtigen Moment Gestalt. Indem es sich frei bewegt und mit seiner Umgebung interagiert, wobei es sich ständig verändert und mit der Zeit selbst spielt, scheint es sogar der Luft Form zu geben. Im Gegensatz zum Mobile greift sein statisches Gegenstück, das „Stabile“ – ein von Jean Arp geprägter Begriff – „auf die alte Idee der Malerei von implizierter Bewegung zurück. Man muss um ein Stabile herumgehen oder hindurchgehen – ein Mobile hingegen tanzt vor einem.“⁴
Während des Zweiten Weltkriegs, als Altmetall knapp ist, beginnt er an einer neuen Serie abstrakter Skulpturen aus geschnitzten Holzformen zu arbeiten, die mit einem Gefüge aus starren Drähten verbunden sind. Viele dieser Skulpturen werden in ungewohnter Höhe an die Wand montiert. James Johnson Sweeney und Marcel Duchamp, die Kuratoren von Calders Retrospektive im Jahr 1943 im Museum of Modern Art, nennen diese Werke „Constellations“. Sieben davon werden in diese wichtige Übersichtsausstellung aufgenommen, die so viel Aufmerksamkeit erregt, dass sie aufgrund der grossen Nachfrage des Publikums verlängert wird. Mitte der 1940er Jahre hat Calder internationale Anerkennung erlangt, und seine künstlerische Produktion, die Gemälde, Zeichnungen, Kostüme, Bühnenbilder und Schmuck umfasst, wächst stetig an. 1953 kauft er ein grosses Haus in Saché, einem Dorf im französischen Département Indre-et-Loire. Einen Grossteil seiner letzten Schaffensjahre widmet er Auftragsarbeiten für den öffentlichen Raum.
Calders Vermächtnis besteht nicht nur in der physischen Präsenz seiner Kunstwerke, sondern auch im nachhaltigen Einfluss, den sein Werk auf die Art und Weise ausübt, wie wir die Skulptur wahrnehmen und uns mit ihr auseinandersetzen. Sein Beitrag zur Bildhauerei, der weit über die innovative Verwendung von Materialien und Techniken hinausgeht, liegt vor allem in seiner Fähigkeit, die subtile Essenz flüchtiger Momente einzufangen. Selbst die Stabiles deuten Bewegung an: Materielles Volumen und leerer Raum wechseln sich in einer dynamischen Begegnung ab, in der die Betrachtenden Teil einer sich entfaltenden Erzählung werden. Calders Kunst sprengt die konventionellen Grenzen der Skulptur und wird zu einer immersiven Erfahrung. Der Künstler ist das Bindeglied zwischen avantgardistischer Abstraktion einerseits und zeitbasierter Performance und Videokunst andererseits. Seine Skulpturen laden die Betrachtenden ein, die Entwicklung von Formen und Kompositionen mitzuerleben, und nehmen damit immersive Qualitäten in der Kunst vorweg. Sie kündigen die räumlichen und zeitlichen Dimensionen an, die oft in der zeitbasierten Kunst erforscht werden. Sein Werk verkörpert eine Sequenz, den Ablauf einer Erzählung, in der jede Begegnung einzigartig ist. Die Ausstellung lädt zur Auseinandersetzung mit dieser zeitlichen Dimension ein und fordert die Besucher:innen auf, mit den ausgestellten Werken in Dialog zu treten.
¹ Thomas Messer in Alexander Calder. A Retrospective Exhibition, The Solomon R. Guggenheim Museum, New York, Musée d’Art Moderne, Paris, 1964.
² Fernand Léger, „Introduction“, in Alexandre Calder: Volumes–Vecteurs–Densités / Dessins–Portraits, Galerie Percier, Paris, 1931.
³ Alexander Calder, „What Abstract Art Means to Me“, in The Museum of Modern Art Bulletin, Bd. 18, Nr. 3, Frühling 1951.
⁴ Katharine Kuh, The Artist’s Voice: Talks with Seventeen Artists, Harper & Row, New York und Evanston, Illinois, 1962, S. 42.