04.10.2024–06.01.2025

Premio Culturale Manor 2024 Ticino

Kuratiert von
Francesca Benini
Taisse Grandi Venturi

Mit Unterstützung von
Manor

Im Zentrum von Johanna Kotlaris kreativem Prozess steht das Wort: Es wird von ihr untersucht, es wird aufgeschrieben, laut gesprochen, gesungen. In den Videos, Installationen und Performances der Künstlerin, die oft fiktive Figuren erschafft und interpretiert, wird Sprache zum Ausdrucksmittel, mit dem sie Situationen und Stimmungen auf den Kopf stellt. Indem sie drängende Themen mit kleinen, alltäglichen Begebenheiten konfrontiert, schafft die Künstlerin humorvolle Kurzschlüsse, mit denen sie aktuelle gesellschaftliche Themen wie Geschlechterstereotypen, Schamgefühle oder Machtstrukturen auf den Punkt bringt.

Das Ausstellungsprojekt HUMERE geht auf eine etymologische Verschränkung zurück: Im lateinischen Verb des Titels, das wörtlich «feucht sein, nass sein» bedeutet, steckt gleichzeitig die Wurzel des Begriffs «Humor». Der titelgebende Film und die ihn ergänzenden Installationen spielen mit der Ambivalenz dieses Begriffs, der zwischen Ironie und Tiefsinn oszilliert. Sie formen ein akustisches und visuelles Panorama zusammen, das sich mit dem «Nass»-Sein im weitesten Sinne befasst: «nass» wird als verletzlich, emotional, exzentrisch interpretiert, und doch als verbunden mit anderen und offen für Veränderungen.

Mit einer filmischen Sprache, die sich an das Genre des Musicals anlehnt, erzählt der Film HUMERE Momente aus dem Leben der gleichnamigen Protagonistin: Eine junge Zombie-Frau webt ein Netz an Beziehungen und testet unterschiedliche Formen von Nähe zu den Menschen, die sie umgeben. Unbewusst setzt sie sich so mit zwischenmenschlichen Beziehungen auseinander, hinterfragt dabei verschiedene Formen des Zusammenlebens und führt den Zuschauenden dabei die Paradoxien und Exzesse unserer Gesellschaft vor die Augen. Welche Formen von Beziehungspflege und Nähe können wir in einer Zeit der Vereinzelung und des Individualismus zulassen?

Mögliche Antworten liefern die Figuren, die sich im Laufe des Films auf dem Bildschirm abwechseln. Die Realität, in der sie sich bewegen, ist eindeutig prosaisch und alltäglich, birgt jedoch sowohl geheimnisvolle wiederkehrende Symbole als auch ikonografische Anspielungen auf religiöse Bildwelten. Die «Piratin», in die sich Humere verliebt, Max, zu dem sie eine zwiespältige Beziehung unterhält, oder die Kosmetikerin Désirée, die ihr letztendlich paradoxerweise durch die Körperpflege hilft, vergessene Teile ihrer selbst wiederzufinden: Trotz der Gespräche und Interaktionen scheint keine wirkliche Kommunikation zwischen den Figuren stattfinden zu können, als sprächen sie auf unterschiedlichen Frequenzen, unfähig, sich aufeinander einzustimmen. Dialoge wechseln sich mit Popmusikstücken ab, perfekte Produkte des krisengeschüttelten Systems, dessen Risse HUMERE aufzeigt. Die klangliche Dimension des Films ist zentral und begleitet die Zuschauer:innen durch die gesamte Ausstellung.

Die neue Reihe an Installationen im Schau besteht aus Gipskartonplatten, Segeln und Rettungsseilen, und verweist auf den inneren, aber auch physischen Schiffbruch, dem sich Humere auf ihrem «Entwicklungsweg» durch den Film stellt. Die in Sgraffitto-ähnlichen Technik bearbeiteten, mit lichtempfindlichem Lack bedruckten oder mit einer Kunstharzschicht überzogenen Gipskartonflächen greifen die Szenerie und die Stimmung der Projektion auf. Als visuelle Fragmente zwischen Skulptur und Malerei schaffen die Installationsgruppen so eine semantische Kontinuität zwischen dem physischen Raum, den die Betrachter: innen einnehmen, und dem virtuellen Raum des Films, den Humere in ihrer exzentrischen Haltung bewohnt; seien es  Stadtansichten – wie im Falle der Architektur des Berliner Regierungsviertels – oder Gewässer voller Treibgut.

Begleitet werden diese Bilder von einigen Worten, Namen fiktiver Modemarken, die an Filmkostüme erinnern und den Ausstellungsraum für sich beanspruchen Sie wechseln von der privaten und intimen Dimension, die sie im Film einnehmen, in eine breitere soziale und kollektive Sphäre. Einzelne mit Kunstharz behandelte Kleidungsstücke tragen einen vergeblichen Trocknungsprozess zur Schau.

Die Installationen suggerieren menschliche Infrastrukturen, die wiederum weisen auf Baustellen hin – innen und aussen, privat oder gesellschaftlich   – und damit auf all die komplexen Auf- und Abbauarbeiten, die wir im Laufe eines Lebens vollziehen. Das Wasser, welches metaphorisch in den Ausstellungsraum eindringt, unterstreicht die Bedeutung dieses Elements in HUMERE. Als gemeinsamer Nenner eines Grossteils der Filmszenen definiert es die existenzielle Situation der Protagonistin. So kann der symbolische Kontrast zwischen den Polaritäten des Films besser zur Geltung kommen – zwischen den allegorischen Anspielungen auf die Geburt, den Fluss des Lebens einerseits und Humere selbst andererseits, die lebende Tote, deren rätselhaftes Ende die Betrachtenden auffordert, sich selbst zu hinterfragen.


Johanna Kotlaris (*1988) lebt und arbeitet in Zürich. Ihre Werke wurden bei zahlreichen Anlässen gezeigt, unter anderem bei Ninfe, Campane subacquee e Pesci giganti, Bally Foundation, Lugano (2024); we will be better we will be better we will, KIOSKO Galería, Santa Cruz de la Sierra, Bolivien (2023); Performancepreis Schweiz, Kunstmuseum Luzern, Luzern (2022); Prix Mobilière, Art Gèneve, Genf (2022); Cantonale Berne Jura, Kunsthalle Bern, Bern (2021); Les Urbaines, Arsenic Theatre, Lausanne (2021); Laube zur schiefen Lage, Cabaret Voltaire, Zürich (2021). Sie gewann unter anderem folgende Preise und Auszeichnungen: den Prix Mobilière (Finalistin, 2022), den Performancepreis Schweiz (Finalistin, 2022), den UBS Culture Foundation Visual Arts Grant (2020), den Patronagefonds des Kunstvereins Basel (2018 & 2017) und den Gerrit Rietveld Academie Award (2013). Kotlaris war Artist in Residence am Rupert, Vilnius; an der ABA-Air Berlin Alexanderplatz, Berlin; an der Stiftung BINZ39, Zürich, und machte dank der Unterstützung der Kulturabteilung der Stadt Zürich einen Aufenthalt im F+F Kunstatelier und in Berlin. Johanna Kotlaris erwarb einen BA in Design an der Gerrit Rietveld Academie in Amsterdam und einen MFA cum laude am Piet Zwart Institute Rotterdam.

Johanna Kotlaris ist Preisträgerin des Manor Kunstpreises 2024 Tessin. Der seit 1982 vergebene Preis gehört zu den wichtigsten Auszeichnungen für zeitgenössische Kunst der Schweiz.


Der Katalog
Anlässlich der Ausstellung wurde das Buch Jessica Jessica Jessica von Jungle Books in Zusammenarbeit mit dem MASI Lugano herausgegeben. Die Publikation wurde von der Künstlerin als weiteres Werk konzipiert und umfasst in Briefform verfasste Texte, die an Jessica adressiert sind.

Ausgestellte Werke

1 The weather… the everyday stress…
2024
Segel, Bootsseil, Gipskarton, reflektierender Stoff
Variable Dimensionen

2 I just wanna be chill and easy, I don’t wanna get into trouble
2024
Photosensitive Farbe, Baumwollsocken und Epoxidharz auf Gipskarton
261 x 420 cm

3 Are you trying to kill me?
2024
Segel, Bootsseil, Gipskarton, reflektierender Stoff
Variable Dimensionen

4 Tell me what you want baby, come on!
2024
Epoxidharz auf Gipskarton
260 x 180 cm

5 TRA(there’s something I don’t know that’s stuck in my throat)VEL
2024
Epoxidharz auf Gipskarton
260 x 720 cm

6 You said you’re sad, you said you’re sad, I’m gonna make you better
2024
Gips, Kuskus, Acrylfarbe, Epoxidharz
5 x 15 x 12 cm

7 The sun is standing at about 35° from the ground. Just the way it should be at this time of year and day
2024
Photosensitive Farbe auf Gipskarton
200 x 360 cm

8 Yea good. Great actually
2024
Jeansjacke und Epoxidharz auf Gipskarton
261 x 134 cm

9 SAINT
2024
Photosensitive Farbe auf Gipskarton
200 x 720 cm

10 Tabula Rasa
2024
Getrocknete Rosen, Epoxidharz
5 x 45 x 74,5 cm

11 2(X)IST
2024
Segel, Bootsseil, Gipskarton, reflektierender Stoff
Variable Dimensionen

12 HUMERE
2024
Digitalfilm, Farbe, Ton, 53’46’’

Der Film beginnt jede volle Stunde.
Erste Vorführung:
Di - Fr: 11 Uhr
Sa - So: 10 Uhr
Dieser Film enthält Szenen mit Gewalt, Nacktheit und Drogenkonsum. Die Sprache ist manchmal explizit.

Für alle Werke: courtesy of the artist